Mannschaftssport

von Christiane Herrmann

Sie nennen sich Geestrunners und haben sich für den "Lauf zwischen den Meeren" angemeldet. Auf fast hundert Kilometern quer durch Schleswig-Holstein wollen sie sich im Staffellauf gegen mehr als 600 Mannschaften behaupten.

Thomas Illing läuft. Er läuft vor nichts davon, auf nichts zu. Sein Ziel ist nicht der Weg, sondern die Bewegung. Auf dem trockenen Asphalt erzeugen seine Schritte einen gleichmäßigen Rhythmus. Von den steilen Hügeln des Mittelholsteinischen Geestrückens schlängelt sich der Weg herunter in ein flaches Moor. Jetzt wechselt Thomas die Geschwindigkeit. Eine Minute Tempolauf, danach wieder drei Minuten entspanntes Traben, immer im Wechsel über zehn Kilometer. In der Hand hält er sein Mobiltelefon, die App darauf kontrolliert jeden seiner Schritte. Er hat einen Trainingsplan, an den er sich strikt hält. Er hat auch einen Plan für den "Lauf zwischen den Meeren".Doch dieser Plan droht zu scheitern."In diesem Jahr ist es eine Katastrophe", der Schweiß rinnt dem 53-jährigen von der Nase. Die Angst ist sein leiser, aber ständiger Begleiter. "Vor drei Wochen habe ich mir beim Fußball das Knie verdreht. Ich muss aufpassen, dass es nicht wieder anfängt, weh zu tun." Doch Thomas Illing kann es nicht lassen, nicht das Fußballspielen und auch nicht das Laufen.


Bild 1:Laufen ist ein einsamer Sport.

Wegen des Fußballs hatte er vor neun Jahren mit dem Laufen begonnen.Anfangs war es nur als Trainingsersatzgedacht, denn die Arbeitszeiten ließen den Besuch des Vereinstrainings nicht mehr zu. Doch bald packte ihnder Ehrgeiz."Laufen ist eine einsame Angelegenheit. Ich bin aber eigentlich ein Mannschaftssportler", erzählt Thomas. So gründete er vor 3 Jahren die Geestrunners Beringstedt um am "Lauf zwischen den Meeren" teilnehmen zu können. Für diesen Staffellauf muss eine Mannschaftaus 5 bis 10 Läufern bestehen. Doch Beringstedt hat nur knapp700 Einwohner. Leicht war es schon damals nicht, genug gute Läufer zu finden.Über eine Distanz von 96,3 Kilometern, aufgeteilt in zehn Streckenabschnitte, führt der Lauf von Husum an der Nordsee quer durch Schleswig-Holstein bis nach Damp an der Ostsee. Doch in diesem Jahr sieht es für die Geestrunners nicht gut aus. Ein Läufer nach dem anderen verletzte sich und erteilte dem Teamleiter eine Absage. Und dann rissen auch noch bei Frank Rohwäder, seinem langjährigen Lauffreund, die Muskelfasern in der Wade.

Die Luft wird drückend auf den letzten Kilometern des Trainingslaufes. "Frank erholt sich langsam. Ich habe ihm einen Trainingsplan aufgestellt." Thomas musste schon zu viele verletzte Teamkameraden ersetzen, er kann nicht auch noch auf Frank verzichten.Beim "Lauf zwischen den Meeren" geht es ihm nicht ums Gewinnen. Es geht darum, sich selber zu besiegen. Im vergangenen Jahr erreichten sie den 46. Platz bei über 600konkurrierenden Mannschaften und eigentlich wollten sie sich noch verbessern. Doch Thomas schraubt seine Erwartungenschon herunter: "Unter die ersten Hundert zu kommen, wäre schon toll."

Nach einer Stunde Training kommt Thomas wieder bei seinem Haus in Beringstedt an. Hier wohnt er mit seiner Frau und den drei Kindern. Der 19-jährige Jorge, sein ältester Sohn, ist einer seiner besten Läufer im Team. Thomas schaut auf die Läufer App. „Ich bin schneller gelaufen als ich wollte. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht übernehme“, die Hand berührt unwillkürlich das Knie. Seine Pläne schmiedet er amKüchentisch. Drei Fahrer müssen die zehn Läufer zu den Wechselpunkten quer durch Schleswig-Holstein bringen. Sein Vater, sein Neffe und ein Freund seines Vaters werden den ganzen Tag unterwegs sein, um nach einem ausgeklügelten System den einen Läufer abzuliefern und den nächsten wieder abzuholen. Thomas plant alles minutiös. Es darf jetzt nichts mehr schief gehen.

36 Stunden vor dem "Lauf zwischen den Meeren" klingelt Thomas´ Telefon. Rüdiger sagt ab. Rüdiger, der Freund eines Freundes, war schon als Ersatzläufer für einen anderen eingesprungen. Jetzt hat auch er sich beim Training übernommen und den Oberschenkel gezerrt. Thomas ruft seinen letzten Ersatzläufer, Thomas Dallmeyer, an. Thomas D. hatte schon lange auf einen Platz im Team gehofft. Doch die Ansprüche des ehrgeizigen Teamleiters sind hoch. Eine Durchschnittsgeschwindigkeit von unter 5 Minuten pro Kilometer ist Aufnahmebedingung. In den letzten Wochen jedoch hat Thomas D. zusammen mit seinem Freund Sven Rohwer viel trainiert. „Du bist im Team“, viel mehr braucht Thomas nicht zu sagen. Nur wann er abgeholt wird und welche Strecke er laufen soll, dann ist alles geklärt. Theoretisch ist der Plan jetzt perfekt.

Am 1. Juni kurz vor 09:00 Uhr morgens im Nieselregen strömen 667 Staffelläufer zum Start in Husum. Thomas ist da noch zu Hause in Beringstedt. Er wird erst um 11:00 Uhr abgeholt, um zu seinem Startpunkt gebracht zu werden. Nils Meyer, 22 Jahre alt, ist der erste Läufer der Geestrunners Beringstedt. Er versucht einen guten Startplatz zu ergattern, war früh genug dort, während andere sich noch warm liefen. Doch mehr und mehr Läufer drängen sich hinter die weiße Linie. Nils droht seine Startposition zu verlieren, versucht in der immer enger werdenden Masse aus Körpern seinen Platz zu behaupten. Eine Mischung aus Anspannung und Galgenhumor steht in den Gesichtern. Je näher vor der Startlinie sie sich drängen, desto mehr steht ihnen auch der Ehrgeiz ins Gesicht geschrieben. Auch Nils hat Ehrgeiz. Er möchte sein Bestes geben,schafft es noch, ein wenig weiter nach vorne zu kommen, bevor der Startschuss fällt. Mit dem Knall aus der Pistole ergießt sich eine Flutwelle aus Körpern in grellen Laufshirts aller Farben über das Kopfsteinpflaster am Hafen von Husum. Jeder versucht gleich zu Anfang, so viele Konkurrenten wie möglich hinter sich zu lassen. 11,7 Kilometer bis nach Wittbeck liegen vor ihnen. Dort müssen sie ihren Staffelstab an den Nächsten des Teams übergeben. Nils ist ein guter Läufer, er schafft die Strecke in weniger als 50 Minuten.

Bild 2: Nur wenigen Sekunden und die bunte Schar verschwindet im Land zwischen den Meeren.

Der zweite der Geestrunnersstaffel heißt Tim Hartmann. Der Ausnahmesportler kommt aus Thomas´ Nachbardorf. Als es anfing Absagen zu regnen und die Mannschaft der Geestrunners zusammenschrumpfte, rief Thomas ihn an. Tim war da bereits für seinen eigenen Verein beim "Lauf zwischen den Meeren" angemeldet. Für den durchtrainierten 21-jährigen war das kein Problem. Er läuft locker zwei Streckenabschnitte nacheinander. Vom Start in Husum bis nach Wittbeck trägt er das grüne Trikot seines eigenen Vereins. Gute fünf Minuten vor Nils kommt er in Wittbeck ins Etappenziel. Dort erwartet ihn ein Fahrer und streift ihm eilig das neongelbe Trikot der Geestrunners über. Als Nils Wittbeck erreicht, ist Tim bereits ein wenig erholt. Er übernimmt den Staffelstab mit der Startnummer 235 und läuft weiter über 10,5 Kilometer bis nach Hollingstedt.

Die Lautsprecherdurchsagen am nächsten Wechselpunkt verkünden die Ankunft der ersten Staffelläufer. Ankommende Läufer werden bejubelt, startende angefeuert. Die Geestrunners sind noch nicht dabei. Das Feld hat sich auseinander gezogen. Auf einer Wiese läuft sich Eggert Illing warm. Es hat aufgehört zu regnen und die Luft wird wärmer. Mit 52 ist Eggert nur ein Jahr jünger als sein Bruder Thomas. Staunend sieht erandere Läufer, die am Wechselpunkt in Hollingstedt einfach vorbeiziehen, ohne den Staffelstab an jemand anderen zu übergeben. Als 25. kommt Tim auf die Zielgerade. Als Eggert das Neongelb des Geestrunnersshirts entdeckt, reißt er die Arme hoch. Tim findet ihn und von seiner Hand wechselt der Stab in Eggerts. Weg von den lärmenden Durchsagen, den rufenden Zuschauern läuft Eggert hinaus auf die Strecke. Sein Weg führt 11,1 Kilometer nach Osten durch das Land zwischen den Meeren bis nach Dannewerk.

Frank Rohwäders Muskelfaserriss ist gerade noch rechtzeitig verheilt. Auf den Punkt genau hat er für den "Lauf zwischen den Meeren" trainiert. Er ist der vierte Läufer an diesem Tag. Um kurz nach elf übernimmt er in Dannewerk den Staffelstab von Eggert. Frank ist 48 Jahre alt und läuft schon seit vielen Jahren. Dennoch riss ihm vor vier Wochen beim Training eine Muskelfaser in der Wade, ganz ohne ersichtlichen Grund. Das Unbehagen läuft seit dem immer mit und bremst ihn, auch auf den 9,9 Kilometern bis nach Jagel.

Um 12:00 Uhr läuft Thomas Illing sich am Militärflughafen in Jagel warm. Es ist alles geklärt, alles geplant, alle Läufer sind unterwegs zu ihren Wechselpunkten, die ersten sind schon gelaufen, kein weiterer hat sich krank gemeldet. Nun muss Thomas nur noch selber laufen. Die Anspannung der letzten Tage weicht der Konzentration. 8,6 Kilometer bis nach Fahrdorfliegen vor ihm. Es ist eine anspruchsvolle Strecke mit vielen Steigungen. Deshalb hat er sie sich selber zugeteilt. Auf den Monitoren am Wechselpunkt lassen sich die aktuellen Platzierungen ablesen. Die Geestrunners Beringstedt liegen auf Position 52. Thomas sieht seinen Freund Frank aus der Ferne kommen. Der Staffelstab mit der Nummer 235 wechselt den Besitzer, ohne dass ein Wort zwischen den Freunden fällt. Thomas lässt das Getümmel der Übergabezone hinter sich. Er läuft und das ist es, was er wollte. Er läuft für sich allein und läuft für sein Team.

Es wird immer wärmer und kein Wind weht. Die Luft wird drückend. Auf dem Sportplatz in Fahrdorf liegen die Läufer in der Sonne und entspannen sich vor ihrem Einsatz. Sven Rohwer erwartet Thomas schon bald, er läuft sich warm. Der 40-jährige ist stolz, schon zum vierten Mal zu den Geestrunners zu gehören. Er hat seine Zeiten aus dem vergangenen Jahr noch im Kopf und möchte sich unbedingt verbessern.

Bild 3 : Sven bereitet sich vor. Neue Schuhe sollen den Erfolg bringen.

Um 12:55 Uhr kommt Thomas Illing auf der Zielgerade in Fahrdorf in Sicht. Der Schweiß trieft ihm vom Gesicht, die lockigen Haare kleben am Kopf, doch seine Gesichtszüge sind entspannt. Reibungslos gibt er den Staffelstab an Sven weiter. Thomas kann nicht anders, als gleich seinen Lauf mit dem Handy auszuwerten. 4 Minuten und 48 Sekunden pro Kilometer. Er ist zufrieden mit sich. „Fünf Läufer habe ich überholt, drei haben mich überholt. Ich habe zwei Plätze gut gemacht“, erzählt er seinen Teamkollegen. Sven ist da schon längst auf und davon.

Bild 4: Sven übernimmt das Rennen.

Sven muss 8,1 Kilometer bis nach Fleckeby laufen, um dort seinem Freund Thomas Dallmeyer den Staffelstab zu übergeben. Unterdessen fährt Thomas mit Bernd Feldhusen zwei Stationen weiter nach Gammelby. Hier warten sie auf Thomas Ds. Ankunft, denn von hier aus soll Bernd den Staffelstab weitertragen. Die Wechselzone in Gammelby liegt mitten in dem kleinen Dorf. Es ist eng und laut. Musik dröhnt aus einem Lautsprecher und eine Frau ruft die Startnummern der eintreffenden Läufer aus. Die Sonne sticht. Ein ankommender Läufer, ein ca. sechzigjähriger Mann, strauchelt auf der Ziellinie. Nur mit Unterstützung schafft er es noch, eine Bank im Schatten erreichen. Langsam müsste die Übergabe in Fleckeby stattgefunden haben und Thomas D. sollte eigentlich bereits auf der 9,1 Kilometer langen Strecke nach Gammelby sein.Bernd und Thomas warten. Stillstand, warten müssen und nichts tun zu können, das sind nicht Thomas´ Stärken. Das Mobiltelefon klingelt. Thomas´ Gesicht versteinert, als er zuhört. „Sven ist auf der Strecke zusammengebrochen! Ich muss nach Fleckeby zurück!“

Bild 5: Schlechte Nachrichten am Telefon.

Allein steht Bernd nun am Start. Thomas ist mit dem Fahrer überstürzt abgefahren, um sich um sein Team zu kümmern. Bernd wird nervös. Die Hitze und die schlechte Nachricht drücken auf die Stimmung des Läufers. Er versucht, seine Nervosität beim Warmlaufen abzubauen, findet aber nur schwer die Balance zwischen dem Aufwärmen der Muskeln und der Anstrengung vor dem eigentlichen Lauf. Der 48-jährige hat kein Mobiltelefon dabei, bekommt keine Nachricht über Sven oder den weiteren Verlauf des Rennens für die Geestrunners. Es dauert noch mehr als eine halbe Stunde bis Thomas D. auf der Zielgeraden in Sicht kommt. Der Staffelstab wechselt erneut seinen Träger und Bernd verschwindet hinter dem nächsten Hügel. Thomas D. ist erschöpft und er sorgt sich um seinen Freund Sven. Ein fremder Läufer einer anderen Staffel hatte ihm in Fleckeby den Staffelstab von Sven überbracht, während sich Sanitäter sich um seinen kollabierten Freund kümmerten. Dennoch war der 40-Jährige Thomas D. losgelaufen. Das Team zählt auf ihn.  

Bernd schafft die 8,1 Kilometer bis nach Hemmelmark in 40 Minuten, bevor er seinen Staffelstab an Sven Eckhoff übergibt. Sven E. hat die vorletzte Etappe zwischen Hemmelmark und Waabs zu bewältigen. Parallel zu Eckernförder Bucht verläuft die Etappe des 40-jährigen, die Ostsee schon fast zum Greifen nahe. Er braucht 56 Minuten für die 10,6 Kilometer bis nach Waabs. Dort reicht er den Staffelstab an den Jüngsten der Staffel, Jorge Illing, weiter. Der 19-jährige hat die Ehre, den Staffelstab ins Ziel zu bringen.

In Damp wird Jorge erwartet. Kurz vor dem Ziel an der Uferpromenade sind die Läufer, die Fahrer und auch die Familien zusammen gekommen und halten Ausschau nach dem neongelben Shirt in der Ferne. Einer fehlt.Sven wurde ins Krankenhaus nachEckernfördegebracht. Seine Frau ist bei ihm und er ist wieder bei Bewusstsein. Die Ärzte schließen einen Herzinfarkt und auch einen Schlaganfall aus, wollen ihn aber noch weiter untersuchen. Er selber berichtet später, dass er für seine Verhältnisse recht schnell gelaufen sei. Fast hätte er es geschafft, nur wenige hundert Meter vor seinem Ziel geriet er ins Taumeln. Er verlor das Bewusstsein. Andere Läufer leisteten Erste Hilfe und alarmierten die Sanitäter. Sven kam erst im Krankenwagen wieder zu sich. Erst zwei Tage später wird er das Krankenhaus wieder verlassen dürfen.

Weit entfernt vom Trubel der Zielleine, auf der anderen Seite des Yachthafens von Damp, wird ein neongelber Punkt sichtbar. Jorge kommt näher. Die Strecke schlängelt sich noch einmal entlang der ganzen Uferpromenade, immer dicht am Wasser. Ein letztes Mal gehen die anderen Läufer auf die Strecke. Angeführt von Jorge bringen sie gemeinsam den Staffelstab über die Ziellinie am Strand der Ostsee. Alle Anspannung, alle Anstrengung und auch der Ehrgeiz scheinen hinter dieser magischen Linie zurückzubleiben. 11 Plätze konnte Jorge auf den letzten 8,6 Kilometern bis nach Damp noch gutmachen.

Bild 6: Zieleinlauf in Damp.

Die Geestrunners haben es nicht geschafft, sich selber zu besiegen. Doch sie haben ihr Bestes gegeben, bis zum umfallen gekämpft. Der 69. Platz steht später auf den Urkunden. Sie sind mit ihren Leistungen zufrieden.

Noch Stunden später, bis in Abend hinein, kommen nach und nach Mannschaften ins Ziel. Die Geestrunners sitzen da schon lange am Strand, strecken ihre Beine aus, genießen ein kühles Bier und feiern ihren Erfolg. Thomas Illing plant da bereits für den nächsten "Lauf zwischen den Meeren".

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